Fantasy-Saga für Kinder, Jugendliche und Erwachsene

Kapitel 1

Kapitel 1: Der geheimnisvolle Brief

Angefangen hatte alles vor einem halben Jahr, als Adrian auf ganz eigenartige Weise erfahren hatte, dass sein Großvater, den er nie gekannt und schon gar nicht getroffen hatte, gestorben war. Eigentlich wusste er damals überhaupt nichts über ihn.

Und dann lag völlig unerwartet eines Abends dieses mysteriöse Päckchen vor ihrer Tür. Schon auf den ersten Blick sah es ganz sonderbar aus. Es war nicht in Papier, sondern in dünnes, dunkles Leder eingepackt und auf seiner Oberseite stand in einer silbrig glänzenden Schrift:

Für Georg und Adrian Pallmer
- persönlich -

Keine Adresse, kein Absender. Über den Namen war noch ein eigenartiges Wappen mit einem Drachenkopf in die Oberfläche eingeprägt.

Ansonsten war kein Hinweis zu erkennen, von wem das Päckchen sein könnte. Georg Pallmer, Adrians Vater, war der Erste, der es fand, als er am Abend zum Schuppen gehen wollte, um neues Kaminholz zu holen. Er blieb wie angewurzelt stehen und schaute minutenlang in Gedanken versunken hinab auf das kleine Paket. Erst als Sandy, Adrians neunjährige Schwester vorbeihuschte, erwachte der Vater aus der Starre, hob das Päckchen auf, ging ohne ein Wort zu sagen in sein Arbeitszimmer und legte es ohne etwas zu sagen vor sich auf den Tisch.

Doch Sandy hatte das natürlich bemerkt und rief den Anderen, die im Wohnzimmer saßen, zu, "Seht mal, Papa hat ein Geschenk bekommen!"

Und da ja alle neugierig waren und wissen wollten, worum es ging, stand plötzlich die ganze Familie im Arbeitszimmer und schaute auf das kleine Paket - gerade als Herr Pallmer begonnen hatte, es näher zu untersuchen. In genau diesem Moment begann das Wappen zu leuchten, erst ganz leicht, aber innerhalb weniger Sekunden wurde es zu einem gleißenden Schein, so dass die ganze Familie automatisch ihre Hände vor die Augen hielt, um nicht geblendet zu werden.

Genauso plötzlich war das Licht aber auch wieder verschwunden und auf dem Tisch stand das wie von Geisterhand geöffnete Päckchen. Von innen war es mit glänzendem, schwarzem Samt ausgekleidet. In der Schachtel lag ein goldenes Amulett mit dem Relief des gleichen Wappens wie auf der äußeren Hülle, ein kleiner, zugeschnürter Lederbeutel und ein Stück vergilbtes, unbeschriebenes Papier, das so aussah, als ob es einfach von einem größeren Stück abgerissen worden war. Ansonsten war die Kiste leer.

Alle schauten wie gebannt in die Schachtel, aber keiner wagte, sich auch nur zu bewegen. Da seine Eltern und Schwestern sich nicht rührten, trat Adrian an den Tisch heran und griff sich den Papierfetzen, in der Hoffnung, darauf einen Hinweis zu finden, was das alles zu bedeuten hatte.

In dem Moment, als sein Finger das Papier berührte, erschien darauf nach und nach eine schön geschwungene Schrift, als ob jemand mit einer unsichtbaren Feder eine Mitteilung schreiben würde. Aber noch bevor Adrian die Botschaft lesen konnte, war sein Vater an seine Seite gesprungen, riss ihm den Zettel aus der Hand und stieß ihn mit herunter und zerschmetterte auf dem Boden in tausende Teile. Über diesem Getöse schrie noch der Vater.

"FASS DAS NICHT AN!"

Adrians Mutter und Schwestern standen noch immer wie versteinert in der Tür. Adrian spürte, wie der Schmerz langsam seine ganze rechte Seite erfasste, ganz besonders dort, wo er das Regal getroffen hatte. Aber noch stechender als der Schmerz war der Gedanke daran, dass sein Vater ihn gleichermaßen grundlos wie brutal angegangen war. Oder gab es doch einen Grund, den er nicht kannte?

Fragend blickte er aus dem Bücher- und Scherbenhaufen hervor, erst zu seinem Vater, der noch immer vor Anspannung ganz rot im Gesicht war und zitterte und dann hinüber zu seiner Mutter. Dabei bemerkte er, wie sich die Augen der Eltern für einen kurzen Moment trafen. Und sie schienen sich ohne Worte zu verstehen.

Herr Pallmer warf den Papierfetzen wieder zurück in die Kiste. Sobald der Zettel seine Finger verließ, verblasste die Schrift augenblicklich und er sah wieder so aus wie am Anfang. Der Vater nahm dann das offene Päckchen in die Hand, lief an seiner Familie vorbei zum Kamin im Wohnzimmer und warf alles in das fast heruntergebrannte Feuer. Zuerst schien es so, als ob das Feuer der Kiste und deren Inhalt nichts antun würde, doch dann färbten sich die Flammen mit einem Mal blau und mit einem Geräusch, das fast so wie ein weit entfernter Schrei klang, verbrannte das Päckchen samt Inhalt, ohne dabei Rauch zu erzeugen und ohne irgendwelche Reste zu hinterlassen.

Adrian lag noch immer am Boden zwischen den Büchern und Scherben, seine Mutter und Schwestern standen wie angewurzelt da und sein Vater atmete so heftig, als sei er gerade einen Marathon gelaufen. Adrians Gedanken überschlugen sich. Was ist in Vater gefahren? Was waren das für sonderbare Gegenstände? Warum hat Vater solche Angst davor? Von wem war das Paket? Was weiß Vater darüber? Was stand auf dem Zettel? War es vielleicht gefährlich? War das alles real oder nur Einbildung oder vielleicht nur ein Traum?

Doch dann meldete sich der Schmerz in Adrians Arm wieder und er wusste, dass es doch die Realität war. Die Zeit schien stillzustehen. Und dann, ohne eine Vorwarnung, brach Juliette, Adrians zwölfjährige Schwester, in Tränen aus. Erst schluchzte sie nur ganz leise, doch dann steigerte sie sich immer mehr hinein bis sie fast hysterisch schrie. Ihre Mutter eilte sofort zu ihr hin und versuchte, sie zu trösten, aber die Anspannung der letzten Minuten machte sich explosionsartig Luft und war einfach nicht mehr aufzuhalten. Georg Pallmer rannte ohne etwas zu sagen durch die noch immer offene Tür in die Dunkelheit des Gartens und Adrian nutzte die Gelegenheit, an der Mutter und den Schwestern vorbei aus dem Zimmer zu schleichen.

Er rannte die Treppe nach unten und ging in sein Zimmer, das sich im Keller des kleinen Hauses befand. Er verschloss die Tür und warf sich auf sein Bett, ohne das Licht an zu machen, und schlief, tief in Gedanken versunken, ein.

 

Obwohl es Wochenende war, hatte Adrians Vater am nächsten Morgen schon sehr früh das Haus verlassen. Als Adrian in die Küche kam, saßen die Anderen schon am Frühstückstisch. Er setzte sich schweigend dazu und erwartete eigentlich, dass jemand die Geschehnisse des gestrigen Abends ansprechen würde. Aber alle verhielten sich so, als ob gar nichts geschehen sei und Adrian hatte auch keine Lust, den Anfang zu machen.

Als er einige Zeit später das Haus verlassen wollte, um im nahegelegenen Wald joggen zu gehen, wie er es jeden Samstag morgen tat, erstarrte er vor Schreck, als er durch das Glas der Tür nach draußen schaute. Dort lag wieder das gleiche Paket wie gestern Abend. Die einzigen Unterschiede, die er erkennen konnte, waren Spuren von weißer Holzasche, gerade so, als hätte es jemand gerade aus einem Aschehaufen gezogen. Ansonsten schien es aber nicht im Geringsten beschädigt zu sein.

Adrians Gedanken wirbelten wie wild in seinem Kopf herum. Sollte er seine Mutter informieren? Oder gar warten, bis sein Vater nach Hause kommt? Wollte ihnen irgendwer etwas Wichtiges sagen? Oder wollte jemand ihnen etwas Böses tun? Fragen über Fragen. Das Einzige was klar war: dort gab es ein ungelöstes Geheimnis! Würde er das Geheimnis, was offensichtlich damit verbunden war, lüften können?

Ganz unauffällig schaute er hinter sich, um festzustellen, ob jemand von den Anderen auch etwas bemerkt hatte. Da aber niemand zu sehen war, traf Adrian ohne groß nachzudenken eine spontane Entscheidung. Er nahm seinen Rucksack, schüttete dessen Inhalt in eine Ecke, öffnete kurzerhand die Ausgangstür und steckte das Paket so schnell er konnte hinein.

Nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass wirklich niemand etwas bemerkt hatte, lief er mit dem Paket auf dem Rücken los in Richtung des nahegelegenen Waldes. Die Bewegung tat richtig gut, auch wenn der rechte Arm und die Schulter noch immer etwas schmerzten. Während Adrian den Waldweg entlang lief und die frische, kühle Luft einatmete, drehten sich seine Gedanken immer wieder um das Päckchen in seinem Rucksack. Irgendwie war er sich jetzt gar nicht mehr so sicher, ob es eine gute Entscheidung gewesen war, es einfach mitzunehmen. Vielleicht könnte es ja doch etwas Gefährliches sein?

Aber immerhin stand sein Name drauf. Nun gut, nicht nur seiner - aber sein Name war dabei...

Mit jedem Schritt wurde sein Verlangen größer, das Geheimnis des Päckchens aufzuklären! Doch dazu brauchte er einen Ort, wo er ungestört war. Und er wusste auch, wo er so einen Ort finden würde. Ohne anzuhalten, lief er auf dem schmalen Waldweg immer tiefer in den Wald hinein. Zuerst war der Wald noch recht licht und viele majestätische Buchen und Eichen standen in größeren Abständen verteilt zu beiden Seiten des Weges. Zwischendrin waren immer wieder kleine Schonungen mit kleinen, neu angepflanzten Bäumen.

Je tiefer er aber in den Wald eindrang, umso mehr wandelte sich dessen Aussehen und bis er beinahe wie ein Urwald wirkte. Adrian war an der Stelle im Wald angekommen, wo er hinwollte. Außer dem schmalen Weg schien es kaum Möglichkeit zu geben, den Wald zu durchqueren. Überall lagen umgestürzte Baumstämme, die teilweise schon ziemlich vermodert und mit Moos überwachsen waren, zwischen den kleinen und großen Bäumen und Büschen, die trotzdem sehr dicht zusammen standen.

Er schaute noch einmal in alle Richtungen, um sicher zu sein, dass niemand in der Nähe war und verließ dann den Waldpfad, um sich seinen Weg durch das Dickicht in ein dichtes Gehölz zu seiner Rechten zu bahnen. Teilweise standen die Bäume und das Unterholz so dicht, dass der Himmel überhaupt nicht mehr zu sehen und es so finster war, dass die Wurzeln am Boden wie gespenstische Schlangen aussahen.

Nach einiger Zeit öffnete sich das Gestrüpp plötzlich und vor ihm lag eine kleine Lichtung von nicht viel mehr als zehn Metern Durchmesser. Der Boden war ebenfalls mit dickem, dunkelgrünem Moos bewachsen, das sich so weich wie ein Fell anfühlte. Beinahe in der Mitte befand sich ein bizarrer Felsbrocken. Rechts davon plätscherte ein kleines Bächlein vor sich hin. Die Bäume am Rand der Lichtung standen so dicht und waren so hoch, dass man das Gefühl haben konnte, sich in einem Turmzimmer mit grünschwarzen Wänden ohne Tür und dem blauen Himmel als Decke zu befinden. Auch wenn die Sonne hoch oben stand, war immer ein Teil des Bodens im Schatten.

Adrian hatte diesen besonderen Ort vor einigen Jahren ganz zufällig gefunden, als er mit Peter, seinem damaligen besten Freund, im Wald gespielt hatte. Und nur sie schienen den Ort zu kennen. Seitdem war es ihr geheimer Rückzugsort und Treffpunkt geworden, aber als Peter vor zwei Jahren mit seinen Eltern nach Spanien zog, war Adrian nur noch sehr selten hierher gekommen.

Aber heute war es genau der Ort, den er brauchte. Er setzte sich in das Moos, stellte den Rucksack vor sich ab und öffnete ihn vorsichtig. Das Paket steckte noch unverändert in der Tasche. Adrian schüttete es aus seinem Rucksack in das Moos und wartete, was passieren würde. Aber nichts geschah. Er erinnerte sich, dass sein Vater es mehrmals berührt hatte, bevor es sich von allein geöffnet hatte. Also berührte er das Päckchen vorsichtig mit dem Zeigefinger seiner linken Hand. Wieder geschah überhaupt nichts. Dann legte er seine ganze Hand auf die Oberseite des Päckchens. Wieder nichts.

In der nächsten halben Stunde versuchte er noch alle möglichen und unmöglichen Dinge, er hob es hoch, drehte es in alle Richtungen, schüttelte es, strich mit der Hand darüber, drückte auf das Wappen und vieles mehr. Doch alles vergeblich. Nichts. Überhaupt nichts passierte. Sollte das Paket etwa nur auf die Berührung seines Vaters reagieren? Oder hatte es gar nichts mit der Berührung zu tun?

Adrian legte es frustriert vor sich auf den Boden, wütend darüber, dass es nicht so funktionierte, wie er es sich vorgestellt hatte und wartete. Als dann nach einiger Zeit sein Blick auf seinen Rucksack fiel, der neben ihm im Moos lag, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er kürzlich erst ein kleines Taschenmesser in eine der Seitentaschen gesteckt hatte. Sekunden später saß er wieder über das Päckchen gebeugt da und versuchte, es mit Hilfe des Messers zu öffnen. Die äußere Verpackung ließ sich zwar an der Oberfläche anschneiden und es gelang ihm, ein paar Löcher hineinzustechen, aber mehr ging eben auch nicht! Es schien einfach unmöglich zu sein, es auf diese Weise zu öffnen.

Nach unzähligen weiteren, erfolglosen Versuchen verlor Adrian endgültig die Beherrschung und schleuderte das Paket mit aller Macht mehrmals gegen die scharfen Kanten des Felsbrockens, der nur ein paar Armlängen von ihm entfernt war und legte sich, ohne noch einmal einen Blick in Richtung des Päckchens zu werfen, auf den Rücken und schaute in den blauen Himmel über sich.

Wie lange er so da lag, konnte er gar nicht sagen. Als er sich aber wieder aufsetzte, stand das Paket wieder direkt vor ihm - völlig unbeschädigt, aber immer noch verschlossen. Adrian schaute wie hypnotisiert auf das Päckchen, aber er fasste es nicht an. Seine Gedanken drehten sich nur noch um den mysteriösen Inhalt und er erwischte sich dabei, wie er in Gedanken zu dem Paket sprach, "Geh doch endlich auf! ... Geh doch einfach auf! ... GEH JETZT AUF!"

Und plötzlich begann das Wappen wieder zu leuchten, erst ganz leicht und dann gleißend hell, so dass er seine Augen zu kniff, um nicht geblendet zu werden. Als er sie kurz darauf wieder vorsichtig öffnete, war das Licht verschwunden und vor ihm stand die geöffnete Schachtel mit dem gleichen Inhalt wie gestern Abend. Mit leicht zitternder Hand griff sich Adrian das Stück Papier. Und wieder erschien darauf die geschwungene Schrift:

 

Mein lieber Enkel Adrian,

Wenn Du diese Mitteilung liest, bin ich, Dein Großvater, bereits aus diesem Leben gegangen, ohne jemals die Möglichkeit gehabt zu haben, einmal persönlich mit Dir zu sprechen. Mir tut es sehr leid, dass ich in den vielen Jahren keinen direkten Kontakt mit Euch pflegen konnte. Meine Gründe dafür kennt Dein Vater und schon bald sollst auch Du darüber Bescheid wissen. Ich hatte eine sehr wichtige Aufgabe zu erledigen und die Hoffnung, dass meine Pläne auch aufgehen würden.

Dass Du diesen Brief jetzt erhalten hast, bedeutet aber, dass mein Plan leider nicht funktioniert hat und Dein Vater immer noch alles, was von mir kommt, rigoros ablehnt. Aber ich hoffe darauf, dass DU meine Arbeit vollenden wirst!

In der Schachtel findest Du einen Beutel mit all meinen Vorräten an reinem Magium, eine ganz besondere und mächtige, aber auch gefährliche Substanz. Sorge dafür, dass es nicht in falsche Hände gerät! Es wird Dir später noch sehr von Nutzen sein!

Weiterhin hast Du sicher schon mein magisches Amulett gefunden. Nur Personen, in denen das Blut unserer Vorfahren fließt, sind in der Lage, es zu öffnen. Es enthält einen kleinen Schlüssel. Wie Du es öffnen kannst, wirst Du zu gegebener Zeit erfahren. Achte unbedingt darauf, dass Du es IMMER bei Dir trägst und vorerst Niemandem zeigst!

Mein Freund Magnus wird sich mit Dir in Verbindung setzen, sobald Du dafür bereit bist. Du kannst ihn rufen, indem Du das Amulett mit beiden Händen umfasst und klar und deutlich seinen Namen sagst.

Alles Weitere erfährst Du dann von ihm.

In Liebe, Dein Großvater.

 PS: Damit die Botschaft nicht in falsche Hände gerät, zerstört sie sich selbst, nachdem Du sie gelesen hast. Du solltest den Zettel besser wegwerfen...

 

Kaum hatte Adrian die Anmerkung gelesen, fing das Papier Feuer. Erschrocken lies er es aus seiner Hand fallen. Wie in Zeitlupe sank der Zettel langsam zu Boden, während er mit einer bläulich-weißen Flamme verbrannte. Die letzten Zeilen der Schrift, die noch immer zu sehen waren, färbten sich erst dunkelrot und verblassten dann allmählich, bis sie völlig verschwunden waren. Noch bevor das Papier den Boden erreicht hatte, war es restlos verbrannt. Nur ein kleines, weißes Rauchwölkchen erinnerte noch daran, das sich plötzlich zu der Gestalt des Wappens formte, das Adrian inzwischen schon beinahe vertraut war, und sich nach wenigen Augenblicken wieder in Nichts auflöste.

Adrian saß wie benommen auf dem Boden und starrte noch minutenlang in die Richtung, wo er die Reste des Rauchs vermutete. Zum wiederholten Male innerhalb weniger Stunden wirbelten seine Gedanken wie wild durcheinander.

"Ganz ruhig bleiben!", sagte er immer wieder laut zu sich selbst, aber das war gar nicht so leicht, wenn das Herz so heftig pochte, dass er die Schläge wie Erschütterungen bis in seine Finger spüren konnte. Ganz langsam bewegte er seine Augen wieder in Richtung des offenen Paketes. Da lag nun das goldene Amulett und der kleine Lederbeutel - zum Greifen nah!

Adrians Gedanken sprangen wieder zurück zu dem Brief und jede Menge Fragen ohne Antworten formierten sich kreuz und quer in seinem Kopf: Wieso hatte er noch nie etwas von seinem Großvater gehört? Und was für einer Tätigkeit war er eigentlich nachgegangen? Wieso hatten die Eltern niemals etwas von ihm erzählt? Wozu sollte der Schlüssel gut sein? Und überhaupt, was ist ein magisches Amulett und was, um alles in der Welt, soll denn Magium sein? Und wer ist dieser Magnus und wie soll er ihn finden? Und vor allem, welche Arbeit solle er vollenden?

"STOPP! Eins nach dem anderen!", sagte Adrian wieder laut zu sich selbst, um den unkontrollierten Fluss seiner Gedanken zu unterbrechen. Eines stand für ihn fest. Natürlich würde er die Erbstücke seines Großvaters an sich nehmen und sicherstellen, dass sie nicht in falsche Hände geraten würden, obwohl er sich kaum vorstellen konnte, wer sich denn dafür interessieren würde und schon gar nicht, wer versuchen sollte, sie ihm wegzunehmen.

Neugierig, aber doch vorsichtig, holte sich Adrian das Amulett aus er Kiste. Und obwohl es nur wenige Zentimeter groß war, hatte es doch ein beträchtliches Gewicht. Es war spiegelblank und außer dem Symbol auf der Oberseite war es ganz glatt. Er konnte absolut gar Nichts erkennen, was darauf schließen ließ, dass es irgendwie zu öffnen wäre. Es hatte nicht einmal einen Spalt, an dem man sehen könnte, dass es aus mehreren Teilen besteht.

Nach den eigenartigen Erfahrungen mit dem Päckchen war sich Adrian aber sicher, dass er einen Weg finden würde, schließlich hatte in dem Brief gestanden, dass es einen Schlüssel enthalten solle. Aber das hatte Zeit. Also hängte er sich das Amulett, das an einer dünnen Kette befestigt war, um den Hals und verbarg es unter seinem T-Shirt. Zu seiner Verwunderung, spürte er kaum das Gewicht und auch das blanke Metall fühlte sich auf der Haut nicht wirklich kalt an.

Adrian griff sich als Nächstes den kleinen Lederbeutel und öffnete ihn vorsichtig. Er war mit verschieden großen Stückchen einer metallisch schimmernden Substanz gefüllt, die ähnlich wie Goldnuggets aussahen, nur dass sie von der Farbe her fast silbrig-schwarz waren und es schien so, dass sie ein bläulich-violettes Licht ausstrahlten.

Um den gesamten Schatz begutachten zu können, schüttete Adrian den Inhalt des kleinen Beutels in die inzwischen leere Kiste. Fassungslos blickte er auf den immer größer werdenden Haufen, der in kürzester Zeit die ganze Kiste mit Berg füllte. Als die ersten Stückchen über den Rand rollten und im Moos landeten, hörte er auf und schaute ungläubig in den Beutel hinein, um festzustellen, dass dieser trotzdem immer noch fast voll war.

Unmöglich konnte eine so große Menge dieses mysteriösen Metalls aus diesem kleinen Beutel gekommen sein! Und doch war es so gewesen, er hatte es ja mit seinen eigenen Augen gesehen. Im Anflug einer leichten Panik versuchte Adrian die Stückchen zurück in den Beutel zu stecken und zu seiner Verwunderung gelang es ihm ohne größere Mühe, den ganzen Haufen wieder darin unterzubringen, obwohl der Lederbeutel kaum größer als seine Hand war. Nachdem er ihn sorgfältig verschlossen hatte, hängte er ihn ebenfalls um seinen Hals, direkt neben das Amulett.

Die Reste des Pakets versteckte Adrian noch schnell in einer Spalte des kleinen Felsens in der Mitte der Lichtung, die sich fast unerkennbar mit einem Stein verschließen ließ und wo er schon oft Dinge versteckt hatte, die niemand durch Zufall entdecken sollte. Dann machte er sich mit den geheimnisvollen Gegenständen und einem rätselhaften Auftrag auf den Heimweg. Jetzt bemerkte Adrian, dass die Sonne schon ganz tief stand. Er musste fast den ganzen Tag unterwegs gewesen sein, obwohl ihm das gar nicht so vorgekommen war. Seine Mutter wirkte ganz aufgeregt, als er endlich zu Hause ankam.

"Wo bist du nur gewesen? Du verschwindest einfach am Morgen und tauchst den ganzen Tag nicht wieder auf und hast es noch nicht einmal nötig, etwas zu sagen oder wenigstens eine Nachricht zu hinterlassen?"

"Ich war doch wie immer laufen und habe nur etwas die Zeit verpasst..."

Von dem Paket und was alles passiert war, sagte Adrian natürlich kein Wort. Da er merkte, dass seine Mutter gerade erst in Fahrt kam und ganz offensichtlich mit der Antwort nicht zufrieden gestellt war und schon zur nächsten Attacke übergehen wollte, fügte er noch schnell hinzu, "... und ich bin jetzt fix und fertig!"

Und ohne die Antwort abzuwarten, rannte er die Treppe zu seinem Zimmer runter. Er hörte noch, wie seine Mutter ihm etwas nachrief, konnte aber nicht mehr verstehen, was es war.

In den folgenden Tagen beruhigte sich alles weitgehend wieder. Die Erwachsenen taten so, als ob nichts geschehen sei und mit seinen kleinen Schwestern wollte er darüber auch nicht reden. Es gab nur noch eine Aufregung, als Adrian versuchte, seinen Vater über den Großvater, von dem noch nie in der Familie gesprochen worden war, auszufragen. Nach mehreren vorsichtigen Versuchen, die allesamt scheiterten, sagte Adrian seinem Vater direkt ins Gesicht, "Was hast du denn für ein Problem mit Opa, dass du mir nicht einmal die einfachsten Fragen beantworten kannst oder willst?"

"Das verstehst DU nicht!"

"Ich bin kein kleines Kind mehr und verstehe mehr als DU denkst! Versuche es doch einfach einmal!"

Für einige Momente sah ihn der Vater prüfend an und sagte dann, "Dein Großvater ist verrückt und ... äh ... und richtig, ich WILL nicht darüber sprechen!"

Es schien ihm äußerst unangenehm zu sein. Adrian setzte noch einmal an, um zu widersprechen.

"Aber..."

"Kein ABER! Es ist mein LETZTES Wort! Kümmere dich um DEINE Sachen!", fiel ihm sein Vater ins Wort und sein Blick sagte ganz klar und deutlich, dass er keinen Widerspruch hinnehmen würde.

In den nächsten Tagen versuchte Adrian zwar noch einmal vorsichtig, seiner Mutter irgendwelche Informationen zu entlocken, aber ebenfalls ohne Erfolg. Die Erwachsenen schienen sich irgendwie gegen ihn verschworen zu haben. Sie sagte nur, "Denk daran, was Papa gesagt hat!"

Immer noch trug er das Amulett und den kleinen Beutel mit der mysteriösen Substanz, dem Magium, um seinen Hals, und jeden Abend, wenn er sich sicher war, dass er ungestört sein würde, holte er es heraus. Und dann versuchte er, das Amulett zu öffnen oder irgendetwas über die Geheimnisse herauszufinden. Aber er kam einfach nicht weiter, es war wie verhext...

An einem der Abende hatte er sich eine kleine Blechwanne aus dem Keller organisiert, um noch einmal den Inhalt des Beutels zu untersuchen. Zu seiner Überraschung leuchteten die kleinen dunklen Metallstückchen an diesem Tag nicht bläulich, sondern in einem tiefen Purpur. Adrian schüttete langsam den Inhalt des Lederbeutels in die Wanne. Die Magiumnuggets gaben dabei leise klingende Geräusche von sich, fast so, als ob jemand kleine Steinchen auf ein Xylophon rieseln lässt. Der Strom an kleinen und hin und wieder auch größeren Nuggets riss nicht ab und nach kurzer Zeit war die Wanne schon zur Hälfte gefüllt.

Viel zu spät bemerkte Adrian, dessen Mund vor Erstaunen weit offen stand, dass das anfängliche leise Klingen zu einem lauten Geräusch anwuchs, das schließlich so klang, als ob ein Hagelsturm auf ein Glockenspiel mit tausenden Glocken niederging. Die meisten Stücke, die inzwischen aus dem Säckchen kamen, hatten mindestens die Größe von Wachteleiern und schnell war die Wanne fast bis zum Rand gefüllt. Plötzlich pochte und rüttelte es wie verrückt an der Tür zu seinem Zimmer. Und obwohl er sie wie immer verschlossen hatte, erwartete Adrian, dass sie jeden Moment aus den Angeln reißen würde. Voller Panik versuchte er, die Nuggets zurück in den Beutel zu stecken. Seine Hände zitterten aber so stark, dass es ihm nicht wirklich gelang!

"MACH SOFORT DIE TÜR AUF!", hörte er seinen Vater von der anderen Seite der Tür brüllen.

Im ersten Moment fiel Adrian ein Stein von Herzen, 'Es ist nur mein Vater!', beruhigte er sich. Ihm war nämlich der Brief mit der Warnung wieder in den Sinn gekommen und sofort hatten ihn die wildesten Befürchtungen überfallen.

"MACH DIE TÜR AUF ODER ICH TRETE SIE EIN!"

Auf einmal war er sich gar nicht mehr so sicher, ob er beruhigt sein sollte, dass es 'nur' sein Vater war. Schließlich hatte er sich in den letzten Wochen seit dem Auftauchen des Päckchens reichlich eigenartig verhalten. Und nicht zuletzt war da noch die Abfuhr vor ein paar Tagen, als er etwas über den Großvater wissen wollte. Seinem Vater zu erklären, dass er das Paket genommen und jetzt dessen Inhalt bei sich hatte, würde mit Sicherheit kein leichtes Unterfangen werden. Und ihm beizubringen, dass er das Amulett und das Säckchen mit Magium behalten und, wenn es sein müsse, auch verteidigen würde, war undenkbar.

"Ähh ... ich ... äh ... ich komm ja schon ... ich muss nur noch schnell ... äh ... eine Hose anziehen..."

In Gedanken wollte er eigentlich sagen, ' ... das Magium verschwinden lassen...'.

In seiner Panik wusste Adrian nicht, was er tun sollte. Doch plötzlich kam ihm eine verrückte Idee. Er nahm eine dünne Decke, die zerknüllt neben seinem Bett lag, breitete sie flüchtig über der mit Magium gefüllten Wanne aus und sagte in seinen Gedanken, ohne genauer darüber nachzudenken, was er eigentlich tat.

'Werde unsichtbar für meinen Vater!'

Das purpurne Licht, was die Nuggets ausstrahlten, wurde für einen Moment noch stärker, so dass es sogar durch die Decke zu erkennen war. Mit einem hellen Blitz fiel die Decke dann zu Boden und Adrian erkannte sofort, dass die Wanne und das Magium verschwunden waren. Er hatte zwar noch keine Idee, wie er es wieder zurückbekommen würde, aber das Problem könnte er ja später lösen...

"MACH JETZT SOFORT AUF! MEINE GEDULD IST AM ENDE!"

"Ich bin ja schon da!", sagte Adrian und öffnete die Tür.

Sein Vater sprang förmlich in das Zimmer und schaute um sich, als ob er etwas Bestimmtes suchen würde.

"Wo ist es?"

"Wo ist was?", entgegnete Adrian und setzte dabei seinen unschuldigsten Blick auf.

"DU weißt ganz genau, wovon ich rede!", sagte sein Vater und begann, alle Ecken des Raumes zu durchsuchen. Natürlich schaute er auch unter die Decke, die mitten in Raum auf dem Boden lag. Aber auch dort konnte er nichts finden. Wusste er etwa doch etwas von dem Magium?

"Kannst Du mir mal sagen, was los ist? OK, ich hatte das Radio etwas laut und dann kam diese furchtbare Werbung und ich wollte leiser drehen und habe den falschen Knopf auf der Fernbedienung erwischt. Das kann doch mal passieren, oder?"

Adrian war schockiert über sich selbst, dass er soeben seinen Vater ohne Wimpernzucken angelogen hatte und konnte kaum glauben, dass dieser ihm die Geschichte abnehmen würde. Irgendwie fühlte er sich auch schlecht dabei, aber auf der anderen Seite sah er aber auch keinen Ausweg. Zu seiner Verwunderung schien sein Vater es aber zu glauben, nachdem er in dem Zimmer nichts Verdächtiges finden konnte. Zumindest tat er so. Er murmelte noch etwas wie eine Entschuldigung, während er das Zimmer wieder verließ. Auf dem Weg nach oben schaute er sich noch ein paar Mal um, als ob er doch noch etwas übersehen hatte. Dann verschwand er aus dem Blickfeld.

Adrian stand regungslos, fast wie festgebunden, noch einige Zeit an der Tür. Er musste sehr tief durchatmen, weil er das Gefühl hatte, dass irgendwer seine Kehle zudrückte. Aber nach ein paar Minuten hatte er sich langsam wieder im Griff, verschloss die Tür sorgfältig und ging zu der Stelle, wo die Decke auf dem Boden lag und wo die Wanne mit dem Magium gestanden hatte. Er musste es schaffen, das verschwundene Magium wieder zurückbringen. Und dann würde er erst einmal diesen Magnus kontaktieren, um herauszufinden, was hier abging, denn so langsam kam ihm das alles ziemlich unheimlich vor.

Das mit dem Zurückbringen war aber leichter gedacht als getan. Adrian versuchte verschiedene Kommandos und Sprüche, war sich aber meist sofort sicher, dass es nicht funktionieren würde. Nach unzähligen erfolglosen Versuchen war er wieder einmal soweit, dass er bereit war aufzugeben. Er stellte das Radio ein und setzte sich auf den Boden.

Aber einen Versuch wollte er dann doch noch starteten. Er konzentrierte sich völlig auf die verschwundene Wanne mit dem Magium. Alles um ihn herum verschwand wie im Nebel und vor seinem inneren Auge sah er ganz klar die Wanne, bis zum Rand mit dem geheimnisvollen Metall gefüllt. Und zum ersten Mal war er sich jetzt plötzlich sicher, dass es funktionieren würde. Er schloss seine Augen und befahl dem Magium ganz vorsichtig, aber bestimmt, wieder in seinem Zimmer zu erscheinen.

Durch seine geschlossenen Augen nahm er erneut einen grellen Lichtblitz wahr und in die Geräuschkulisse, die aus den Lautsprechern des Radios quoll, mischte sich eine Art metallisches Klappern und Rauschen, was aber nach wenigen Sekunden wieder verstummte. In dem Moment war Adrian ganz froh, dass nun das Radio wirklich an war und hoffentlich dieses Geräusch auch übertönt hatte.

Dann öffnete er seine Augen einen winzigen Spalt und blinzelte vorsichtig hindurch. Zu seiner Freude stand die Wanne zwar wieder an der Stelle, wo sie vor dem Auftauchen seines Vaters gestanden hatte. Das war die gute Nachricht! Die Schlechte war, dass sich in ihr aber nicht ein einziges der Nuggets befand. Dafür war aber der ganze Boden des Zimmers damit bedeckt. Adrian überlegte nicht lang, machte das Licht aus und begann, die purpur-roten Lichtpunkte einzusammeln und zurück in den kleinen Lederbeutel zu stecken. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er alle Nuggets wieder verstaut hatte, und eines stand für ihn fest, er musste unbedingt diesen Magnus finden, um Antworten auf seine Fragen zu erhalten. Doch das konnte er auf keinen Fall zu Hause tun, um nicht wieder mit seinen Eltern und insbesondere seinem Vater aneinander zu geraten.

 

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