Fantasy-Saga für Kinder, Jugendliche und Erwachsene

Kapitel 3

Kapitel 3: Die Retterin

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Yoshika Tikuchi und Li Ming, die beide Magister des Ordens waren, untersuchten schon seit einiger Zeit die Ketten, mit denen Martens Connet gefesselt gewesen war und die jetzt auf dem Boden lagen. Etwas wirklich Auffälliges konnten sie jedoch nicht entdecken. Mboa Ubugma schaute sich unterdessen den inzwischen fast komplett verbrannten Stuhl an und wurde auch fündig.

»Ich habe hier ein paar Magiumspuren an der Unterseite entdeckt«, rief er den anderen Magistern zu. Gemeinsam prüften sie die verkohlten Reste.

»Das stimmt«, bestätigte Magnus, nachdem er einen Zauber ausgeführt hatte und an einer Stelle ein länglicher roter Schimmer sichtbar wurde. »Hier könnte sich tatsächlich der Zauberstab befunden haben. Da stellt sich allerdings die Frage, wie er dahin gekommen ist.«

»Der Saal wurde tags zuvor komplett durchsucht. Es gab dort noch nicht einmal einen winzigen Krümmel Magium. Und schon gar nicht einen funktionierenden Zauberstab! Den Stuhl des Angeklagten habe ich selbst untersucht. Da war nichts! Ganz sicher! Und nach der Prüfung war der Saal verschlossen. Kein Zauberer hatte ihn seitdem mehr betreten«, sagte einer der Protektoren.

Es dauerte nicht mehr lange, bis die Untersuchung beendet war. Adrian hatte sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten, wobei er aber trotzdem alles interessiert beobachtete.

»Kann ich kurz mit dir sprechen? Unter vier Augen!«, fragte er Magnus, als der für einen Moment allein war.

»Aber natürlich. Wollen wir gleich in dein Arbeitszimmer gehen?«

Der Gedanke, ein eigenes Arbeitszimmer zu besitzen, fühlte sich für Adrian noch immer ganz komisch an. Schließlich war er erst siebzehn, und so ein geräumiges Büro passte eher zu dem Boss einer großen und erfolgreichen Firma als zu einem Jugendlichen wie ihm.

»Ja, wir können in das Arbeitszimmer meines GROSSVATERS gehen«, antwortete Adrian und betonte besonders seinen Großvater, was ein kurzzeitiges Schmunzeln auf das Gesicht des alten Magiers zauberte.

Dort angekommen suchte Adrian nach einem geeigneten Anfang.

»Es wurde vorhin gesagt, dass der Gerichtssaal sorgfältig überprüft worden war und dass kein Zauberer seitdem Zutritt hatte?«

»Das ist richtig«, antwortete Magnus.

»Und das lässt sich auch überprüfen?«

»Ja natürlich, ein Überwachungszauber stellt das sicher. Würde ein Mensch in den Gerichtssaal eingedrungen sein, wäre ein Alarm ausgelöst worden.«

»Und andere?«, fragte Adrian.

»Was meinst du mit 'andere'? Ich kann dir nicht ganz folgen«, entgegnete Magnus mit prüfendem Blick.

»Na andere Wesen. So was wie zum Beispiel ein Kobold?«

»Ein Kobold? Hm. Lass mich mal nachdenken ... Nun ja, es könnte schon sein, dass eine magische Kreatur sich Zugang verschafft haben könnte. Andererseits ist das aber auch nicht so wahrscheinlich, denn dazu müsste sie sich bereits hier auf Rocher d'Arlon befinden, wobei mir nichts davon bekannt ist. Aber ...«, Magnus machte eine kurze Pause, »... wie kommst du eigentlich da drauf? Hast du irgendeinen Hinweis?«

Adrian erzählte seinem ehemaligen Lehrer von dem, was er gestern mit dem Kobold erlebt hatte. Schweigend und in Gedanken versunken hörte ihm der alte Magister zu, bis er mit seiner Erzählung zu Ende gekommen war.

»Das wäre sehr beunruhigend«, antwortete Magnus besorgt, »Bist du dir sicher, dass das tatsächlich so passiert ist?«

»Wie? Glaubst du etwa, ich habe mir das nur eingebildet?«

Adrian war überrascht und gleichzeitig erzürnt darüber, dass der Zauberer ihm scheinbar nicht zu glauben schien.

»Natürlich glaube ich dir«, besänftigte ihn Magnus, »Aber bist du dir wirklich sicher, dass es sich nicht vielleicht doch nur in deinem Geist abgespielt hat? Schließlich hat dich ein unbekannter Zauber getroffen, von dem wir nicht genau wissen, welche Wirkung er auf dich hatte.«

»Ganz sicher! Dieser elende Gnom war hier. Ich habe den fürchterlichen Gestank seines faulen Atems noch immer in meiner Nase.«

Magnus Jonson zog seinen Zauberstab heraus und zog damit einen großen Kreis mit Adrian in seiner Mitte, ohne eine Erklärung abzugeben. Der junge Hüter des Siegels brauchte aber keine Erklärung, da er sich denken konnte, was der alte Zauberer vorhatte.

Schon nach kurzer Zeit stellte dieser fest: »Du hattest recht, hier war ein Kobold drin.«

»Sag ich doch!«, fühlte sich Adrian bestätigt.

»Die Frage bleibt aber: Wie kam er hier rein? Und was wollte er wirklich?«

»Und hat er möglicherweise etwas mit Connets Flucht zu tun!«, ergänzte Adrian noch.

Fast zwei Stunden brachten die Zwei damit zu, den Raum zu durchsuchen und sämtliche Spuren zu sichern. Es hatte ganz den Anschein, dass der Kobold das gesamte Zimmer durchwühlt hatte. Ob er auch etwas entwendet hatte, konnten sie jedoch weder feststellen noch ausschließen, auch wenn es vorerst nicht danach aussah.

»Wir sollten hier erst einmal abbrechen. Ich werde veranlassen, dass der Gerichtssaal auch nach Koboldspuren abgesucht wird«, schlug Magnus vor, »Ich denke, es wäre ganz gut, wenn du ein paar Tage mit mir kommst. Wenn dann die Nachforschungen abgeschlossen sind, sind wir wieder zurück.«

Adrian nahm die Einladung schweigend an. Zu viele Dinge waren in den letzten Tagen passiert. Etwas Ablenkung würde ihm sicher gut tun.


Mehrere Wochen schon wanderte der Zwerg Sa'Ari allein durch Wälder und Wiesen, über hohe Berge und durch lang gezogene Täler. Seit er die Zwergenkolonie O'Ra verlassen hatte, war er weder Menschen noch anderen Zwergen begegnet. Das war auch nicht weiter verwunderlich, da er jegliche belebten Orte sowie öffentliche Wege und Straßen tunlichst mied.

Die meiste Zeit lief er durch das Dickicht der Wälder oder bahnte sich seinen Weg durch Mais- und Getreidefelder. Schon zweimal hatte er auch hohe Gebirgspässe überwunden, jedoch wartete er stets die Dämmerung ab, um dann im Mantel der Dunkelheit die Stellen zu passieren, wo er bei Tageslicht möglicherweise gesehen werden könnte.

Als Zwerg war er natürlich geübt darin, sich so vor den Blicken der Menschen zu verbergen, dass die nur in den seltensten Fällen etwas von der Existenz der kleinen Wesen mitbekamen. Doch das war nicht der wichtigste und auch nicht der einzige Grund für die besondere Vorsicht von Sa'Ari.

Vielmehr wollte er nicht von seinesgleichen entdeckt werden, seit er die Kolonie verlassen hatte. Sein Vater, der Schmied Sa'Guor, war als neuer Druide gewählt worden, nachdem er es gelernt hatte, mittels kleiner Käfer aus der magischen Legierung Magium die Magie von Zauberern einzufangen und nachzuahmen. Er war der erste Zwerg überhaupt, dem dies gelungen war.

Entsprechend wurde er von den anderen Zwergen auch gefeiert wie ein Superstar. Die damit einhergehende Macht hatte ihn ganz besessen gemacht. Schon nach kurzer Zeit erkannte Sa'Ari seinen Vater kaum mehr wieder.

Doch dessen Machthunger war noch längst nicht gestillt. Nachdem er Con'Or, den eigentlichen Druiden der Zwergenkolonie O'Ra, entmachtet und schließlich dessen Position eingenommen hatte, strebte er nach mehr. Er wollte seine neuen Fähigkeiten dazu nutzen, die Macht der Zwerge auch auf die Menschen und Zauberer auszudehnen. Wenn es nach ihm gehen würde, so wollte er den Spieß umdrehen, und Versklavung über die Menschen und Zauberer bringen, was früher oft das Schicksal der Zwerge gewesen war.

Traurig hatte Sa'Ari diese Entwicklung miterlebt und dabei feststellen müssen, dass sein Vater sich in nur wenigen Wochen von einem liebenswürdigen, toleranten Wesen in einen kaltherzigen, machtgierigen Despoten verwandelt hatte. Als Sa'Ari dann versuchte, ihn umzustimmen, hatte der ihn ohne den geringsten Skrupel eingesperrt.

So hatte der junge Zwerg keine andere Möglichkeit gesehen, die erstbeste Gelegenheit zum Ausbruch zu nutzen, zumal scheinbar ausnahmslos alle Zwerge der Kolonie begeistert seinem Vater zujubelten, ihn unterstützten und ihm fast wie einen König huldigten.

Seitdem befand sich Sa'Ari auf der Flucht. Sein Ziel war es, die Hütte von Magnus Jonson zu erreichen, bei dem er nach seiner ersten Verbannung schon einmal Unterschlupf gefunden hatte. Andere Freunde als ihn und Adrian Pallmer hatte er nicht.

Sein einziger Begleiter war ein kleiner Käfer aus Magium, den er nach dem Vorbild der Käfer seines Vaters gefertigt hatte, als sie zusammen in der Burg der Schwarzen Hexe gefangen waren. Was Sa'Aris Vater allerdings nicht wusste, das war, dass er inzwischen auch gelernt hatte, mithilfe des Käfers aus magischem Metall Magie zu kontrollieren. Im Gegensatz zu ihm hatte er es jedoch immer nur im Verborgenen geübt. So war es ihm zwar gelungen, aus der Gefangenschaft seines Vaters zu entkommen, aber seitdem war er wie ein Geächteter auf der Flucht.

Er war im Einfangen und Beherrschen von Magie noch lange nicht so gut wie Sa'Guor, aber mit etwas Training würde er ihm ganz bestimmt schon bald in Nichts mehr nachstehen.

Da Sa'Ari schon während der Feierlichkeiten anlässlich der Weihe seines Vaters zum Druiden aufgebrochen war, konnte er genügend Vorsprung aufbauen, weshalb die Verfolger, die sein Vater hinter ihm hergeschickt hatte, ihn nicht einholen konnten. Zumindest bisher nicht.

Trotzdem ließ ihn das Gefühl nicht los, dass er von jemandem verfolgt wurde. Deshalb gönnte er sich auch kaum eine Pause. Nur in der Nacht, wenn es so dunkel war, dass er nichts mehr sehen konnte, suchte er sich ein Versteck. Dort gönnte er sich etwas Ruhe, um dann aber bereits am nächsten Tag beim ersten Schein der Morgendämmerung schon wieder aufzubrechen.

Seine Verfolger schienen es ihm gleich zu tun, auch wenn Sa'Ari schon mehrmals so etwas wie den Schein einer Fackel gesehen hatte. Zurückzugehen, um herauszufinden, wer das war, traute er sich nicht. Es war ja möglich, dass es so viele waren, dass sie ihn trotz seiner Fähigkeiten überwältigen könnten. Seinen Magiumkäfer wollte er aber auch nicht riskieren. Deshalb lief er immer weiter, in der Hoffnung, sie doch noch abzuschütteln.

Die Sonne stand schon ganz tief, als Sa'Ari den Waldrand erreichte. Vor ihm erhob sich eine majestätische Bergkette, die er als Nächstes überwinden musste.

Während er überlegte, ob er heute noch den Aufstieg beginnen sollte oder nicht, knackte im Dickicht hinter ihm ein dürrer Ast. Erschrocken blickte sich Sa'Ari um, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Rechts von ihm raschelte es wieder. War dort womöglich ein Raubtier auf der Pirsch und hatte den Zwerg bereits als sichere Beute im Visier? Oder hatten es seine Verfolger doch geschafft, seinen Vorsprung aufzuholen und warteten nur auf die passende Gelegenheit, um über ihn herzufallen?

Plötzlich knackte auf der anderen Seite ebenfalls ein Ast und Sa'Ari fuhr mit dem Kopf herum. Doch zum wiederholten Male konnte er nichts sehen. Die untergehende Sonne war inzwischen hinter dem Horizont verschwunden und das wenige verbleibende Tageslicht reichte kaum noch aus, dass der Zwerg noch etwas erkennen konnte.

In seinen Augenwinkeln nahm er jetzt eine schnelle Bewegung wahr. Aber es war schon zu spät, um noch zu reagieren. Ein großer schwarzer Schatten kam auf ihn zugeflogen, und noch bevor der Zwerg sich abducken oder hinter einem der großen Steine Schutz suchen konnte, wurde er umgerissen. Ein stechender Schmerz lähmte seine Schulter.

Das war alles so schnell gegangen, dass Sa'Ari noch nicht einmal dazugekommen war, sein Messer herauszuziehen, welches er in einer Ledertasche an seinem Gürtel trug. Auch sein Magiumkäfer steckte in der Tasche, sodass er nicht versuchen konnte, irgendeine Magie auszuführen. So blieb ihm nur die Möglichkeit, sich mit bloßen Händen gegen den oder die Angreifer zur Wehr zu setzen.


»Adrian!«, rief Camille begeistert aus, als er und Magnus in der Berghütte der Jonsons ankamen. Noch bevor er ihr antworten konnte, fiel sie ihm um den Hals.

Nachdem Adrian auch von Camis Großmutter herzlich begrüßt worden war, musste er unbedingt erst einmal nach Hermann, dem kleinen Liburen, schauen, der ihm inzwischen ebenfalls ein lieber Freund geworden war. Der war seinerseits so außer sich vor Freude, dass er noch mehr lispelte als sonst, weshalb Adrian kein Wort von dem verstand, was er sagte. Doch das war auch gar nicht notwendig.

Als Adrian wenig später mit Camille allein im Kaminzimmer saß, konnte er es nicht mehr zurückhalten.

»Ich weiß Bescheid über deine Eltern«, sagte er gerade heraus.

Camille blickte für eine lange Zeit schweigend zu Boden. Obwohl Adrian mächtig mit seiner Ungeduld zu kämpfen hatte, sagte auch er nichts. Nervös spielte er mit seinem Zauberstab.

Als schließlich Cami aufblickte, standen ihr dicke Tränen in den Augen. Sie versuchte zwar, etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Gerade, als sie wieder ansetzen wollte, kam ihr Großvater in das Zimmer.

»Adrian«, sagte er mit ernstem Unterton in der Stimme, »Es gab gerade einen Anschlag auf deine Familie. Die Anhänger von ...«

»WAS?«, rief Adrian und sprang von seinem Sitz auf, sodass der Stuhl nach hinten umkippte, »Was ist ... aber das kann doch nicht ... ich muss sofort ...«

»Beruhige dich erst einmal!«, forderte der alte Magier und packte Adrian am Arm, da er sofort losstürzen wollte, »Es gab zwar einen Anschlag, aber sie sind alle soweit okay.«

»Aber ich muss sofort hin!«, entgegnete Adrian und versuchte, sich aus dem Haltegriff zu befreien. Magnus hielt ihn jedoch für sein Alter ungewöhnlich kräftig fest, sodass der junge Zauberer sich nicht ohne Weiteres befreien konnte.

»Adrian!«, wiederholte der alte Zauberer mit etwas lauterer Stimme. Adrian horchte auch tatsächlich auf und schaute Magnus an.

»Gut!«, antwortete dieser, »Nun lass uns erst einmal ganz in Ruhe die Lage analysieren und dann entscheiden, was zu machen ist. Und DANN können wir aufbrechen und das tun, was zu tun ist. In Ordnung?«

»In Ordnung«, entgegnete Adrian, der sich von seiner ersten Aufregung beruhigt hatte. Obwohl seine Gedanken noch immer wie wild durcheinandergewirbelt waren, setzte er sich Magnus gegenüber an den Tisch.

Der alte Magier begann zu erzählen, dass die Familie zusammen einen Ausflug unternommen hatte. Entgegen den Anweisungen der Magister hatten sie dabei ihre Stadt verlassen, da Adrians Vater sich nicht einsperren lassen wollte, schon ganz und gar nicht von irgendwelchen Zauberern. So konnte der Schutzzauber, der die Familie vor der Schwarzen Hexe und insbesondere ihrer rechten Hand, Tomar von Eisenberg, verbergen sollte, nicht mehr wirken und sie schützen.

Auf einer abgelegenen Straße war das Auto der Familie dann von der Straße abgekommen. Der Grund dafür war eine dicke Eisschicht, die sich urplötzlich auf der Straße gebildet hatte, obwohl die Sonne schien und es sommerlich warm war.

Das Auto wurde dann über die Leitplanke geschleudert und war schließlich eine Böschung heruntergeflogen. Aber wie durch ein Wunder war den Insassen nichts Ernsthaftes zugestoßen.

Der eigentliche Grund für das Wunder war jedoch Sandy, Adrians kleine Schwester. In dem Moment, als das Auto zu schleudern begann, hatte sie ihre Augen geschlossen. Es war aber nicht Angst, was sie dazu veranlasste. Vielmehr konzentrierte sie sich mit ihrer ganzen Kraft auf das Auto.

In den vergangenen Wochen hatte sie nämlich einige neue Fähigkeiten bei sich entdeckt, darunter die Möglichkeit, Gegenstände nur mit der Kraft ihrer Gedanken zu bewegen. Bisher konnte sie aber nur ganz kleine und leichte Dinge kontrollieren. Ihren Eltern und ganz besonders ihrem Vater hatte sie natürlich nichts davon erzählt. Sandy hoffte seit Längerem darauf, dass endlich ihr Bruder wieder nach Hause kommen würde, um es ihm zeigen zu können - denn er würde sie verstehen.

Als ihr Vater jedoch die Kontrolle über das Auto verlor, musste sie es einfach versuchen. Ein klein wenig war sie selbst davon überrascht, dass es sogar bei so etwas Schwerem wie dem Auto funktionierte. So konnte sie zumindest verhindern, dass Schlimmeres passierte.

Sobald sie das Fahrzeug halbwegs unversehrt am Fuße der Böschung zum Stehen gebracht hatte, waren plötzlich mehrere dieser Gestalten in dunkelroten Umhängen und tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen aus schwarzen Wolken aufgetaucht und hatten das Auto umringt.

Sandy kannte diese Leute. Sie gehörten zu der bösen Hexe, bei der sie gefangen gewesen war. Ergriffen von panischer Angst versuchte sie, das Auto von dort wegzubewegen, doch ihre Kraft hatte dafür nicht mehr ausgereicht.

Adrians Mutter bemerkte sofort, dass mit ihrer Tochter etwas nicht in Ordnung war. Sie realisierte auch, dass das nicht daran lag, dass dem Vater etwas Blut die Wange herablief.

Juliette, die Ältere der beiden Schwestern, saß wie versteinert da und zitterte so stark, dass ihre Zähne klappernd aufeinanderschlugen. Aber sie sagte kein Wort oder war vielmehr gar nicht in der Lage dazu, auch nur einen Ton von sich zu geben. Obwohl sie nicht verletzt war, atmete sie nur ganz oberflächlich und schnell. Ihr hysterisches Schreien, was sonst so typisch für sie war, blieb jedoch aus.

Geistesgegenwärtig öffnete die Mutter ihre Handtasche und kramte nach etwas. Sandy stieß ihr dabei in die Seite und versuchte, durch wildes Fuchteln auf die Gefahr hinzudeuten, die von den Kapuzenträgern ausging.

»Ich weiß, Liebes, ich weiß«, antwortete ihre Mutter, wobei es ihr kaum gelang, die eigene Angst und Panik zu verbergen.

»GEORG, SO TUE DOCH ETWAS!«, schrie sie verzweifelt, »Das sind die ... du weißt schon. Georg? GEORG!«

Adrians Vater blickte sie nur apathisch an. Blut lief weiter von einer kleinen Platzwunde über seine Wange und tropfte von seinem Kinn auf das hellblaue Hemd. Eine Reaktion zeigte er aber nicht.

Die Kapuzenmänner kamen ganz langsam immer näher. Dabei hielten einige von ihnen ihre Zauberstäbe wie Waffen auf das Auto gerichtet.

Offensichtlich auf sich allein gestellt, wühlte die Mutter weiter in ihrer Handtasche, bis sie endlich fündig wurde. Erleichtert brachte sie eine kleine silberne Kugel zum Vorschein. Genau in dem Moment, als sie sie zwischen ihre Finger nahm, spannte sich eine bläulich leuchtende Glocke über das Auto und zwischen die Angreifer.

Einer von ihnen lief einfach weiter und berührte dabei die leuchtende Membran mit seinem Fuß. Wie von einer riesigen Keule getroffen, wurde er im hohen Bogen durch die Luft geschleudert, bis er in einigen Metern Entfernung schließlich regungslos im Gras liegen blieb.

Die anderen Kapuzenträger blieben auf ein Handzeichen ihres Anführers hin stehen und feuerten einen Blitz nach dem Anderen auf das Auto ab. Die leuchtende Glocke schirmte jedoch das Fahrzeug und damit auch Adrians Familie wie ein Schutzschild ab, sodass ihnen nichts geschah.

»Als einige der Magister und Protektoren schon wenige Augenblicke später am Ort des Geschehens auftauchten, waren nur noch die Reste der schwarzen Wolken zu sehen, durch die sich die Angreifer aus dem Staub gemacht hatten«, schloss Magnus seine Erzählung ab.

»Und wo sind sie jetzt?«

»Deine Mutter und deine Schwestern sind in Sicherheit«, antwortete der alte Zauberer.

»Und ... und mein Vater?«

Magnus Jonson schwieg für einen Moment, bevor er antwortete.

»Das ist das Problem. Als die Magister ankamen, wurde er unheimlich böse auf sie und machte sie sogar für das verantwortlich, was geschehen war ...«

»Ja, ich weiß. Für ihn sind alle Zauberer schlecht«, unterbrach ihn Adrian, »Aber was ist jetzt mit ihm?«

»Ich war ja gerade dabei, es zu erzählen«, entgegnete Magnus ganz ruhig, »Dein Vater hatte noch einen kurzen Streit mit deiner Mutter, nahm seine Sachen aus dem Auto und ist allein weggelaufen. Seitdem hat er sich nicht wieder gemeldet.«

»Und? Es sollte aber doch weder für dich oder einen Anderen der Magister ein Riesenproblem sein herauszufinden, wo er sich befindet! Oder?«

»Das stimmt schon«, antwortete der alte Zauberer mit ernster Miene, »Dein Vater hat jedoch den ausdrücklichen Wunsch geäußert, dass wir ihm nicht folgen.«

»Ja, aber du könntest doch ...«

»Etwas tun zu können heißt noch längst nicht, dass wir es auch tun sollen«, entgegnete Magnus, »Wer über besondere Fähigkeiten verfügt, trägt auch besondere Verantwortung. Magie zu nutzen, um andere Menschen zu unterwerfen oder zu schädigen führt uns mit großen Schritten auf die dunkle Seite. Erinnerst du dich?«

Natürlich erinnerte sich Adrian noch an die Belehrungen seines Lehrers, die er ihm immer und immer wieder eingebläut hatte. Doch so schnell wollte er nicht klein beigeben.

»Aber es geht hier doch gar nicht darum, jemandem Schaden zuzufügen oder ihn gar zu unterwerfen. Es geht hier um meinen Vater! Und der ist gerade dabei, etwas Falsches zu tun!«

Magnus schwieg und schaute zu Boden, sodass Adrian bereits glaubte, ihn überzeugt zu haben.

»Meinst du also, dass es besser wäre, deinen Vater zu zwingen, das zu tun, was wir für richtig halten?«

»Aber es ist richtig!«, gab Adrian noch immer nicht nach.

»Gibt es uns dann das Recht, ihn zu nötigen, unsere Ansichten zu übernehmen? Wäre das dann nicht doch das Gleiche wie eine Unterwerfung?«

Für einen Moment schwieg Adrian. Auch wenn er verstand, was Magnus ihm sagte, wollte er es trotzdem nicht so richtig akzeptieren. Stattdessen fragte er: »Und wo sind jetzt meine Mutter und meine Schwestern?«

»Die haben wir wieder zu euch nach Hause gebracht. Dort sind sie sicher. Vielleicht solltest du sie kurz besuchen? Das wird sie sicher beruhigen und ihnen gut tun.«

»Ja, das sollte ich!«, stimmte Adrian zu, »Cami, kommst du mit mir?«

Camille hatte die ganze Zeit in sich gekehrt dagesessen. Scheinbar war sie in Gedanken ganz woanders. Als Adrian sie so direkt ansprach, schreckte sie auf.

»Ich? Was? Wohin?«, fragte sie verstört und Adrian merkte, dass sie ihm gar nicht zugehört hatte.

»Kommst du mit zu meiner Familie?«, wiederholte er seine Frage und Cami nickte sichtlich erleichtert darüber, dass Adrian offensichtlich das Thema gewechselt hatte.

Bevor die Zwei jedoch aufbrachen, gab Camis Großvater ihnen noch einige Anweisungen und erklärte, dass er und wahrscheinlich noch weitere Magister in ungefähr einer Stunde nachkommen würden.

»Es ist wichtig, dass du dich jetzt ganz auf deine Mutter und deine Schwestern konzentrierst, besonders auf Sandy«, wiederholte er noch einmal zum Abschied.


Zwei große Tatzen mit kräftigen Krallen hatten sich um Sa'Aris Hals gelegt und ihn zu Boden gerissen. Das bösartige Knurren und Fauchen des Angreifers ließ vermuten, dass er über dessen Gegenwehr nicht sehr erfreut zu sein schien. Wiederum hatte der Zwerg auch nicht vor, als Mahlzeit eines wilden Tieres zu enden. Doch seine Kraft würde nicht ausreichen, seinen Angreifer zu überwältigen. Vielleicht könnte er aber lange genug dagegenhalten, bis diesem der Appetit nach ihm vergangen war.

Aber bereits nach kurzer Zeit war klar, dass er schon bald unterlegen sein würde. Verzweifelt krallte er seine Finger in das zottelige Fell des großen Tieres und versuchte, ihn zur Seite zu zerren, aber das machte es nur noch wütender und böser.

In dem Augenblick, als seine Kräfte nahezu erschöpft waren und der Schmerz in seiner Schulter geradezu unerträglich wurde, sprang ein weiterer Angreifer aus dem Dickicht. Selbst, wenn Sa'Ari nicht bereits in einen hoffnungslosen Kampf gegen einen übergroßen Gegner verwickelt gewesen wäre, hätte er bei dem wenigen noch verbliebenen Tageslicht kaum erkennen können, wer oder was jetzt auch noch auf ihn zugesprungen kam.

Zu seiner Überraschung galt der Angriff diesmal aber nicht ihm, sondern dem Bären. Eine Folge kurzer, aber harter Schläge prasselte auf ihn hernieder, beantwortet mit einem noch wütenderen Knurren und Brüllen.

Der letzte Schlag traf allerdings nicht das fresshungrige Tier, sondern den Zwerg. Trotzdem ließ der Braunbär von seinem schon sicher geglaubten Opfer und rannte nach einigen weiteren Schlägen zurück in das Dickicht des Waldes. Raschelnd verschwand er im Unterholz.

»Oh, Entschuldigung, Ya'Vita wollte Sa'Ari nicht treffen«, ertönte eine recht hohe, weiche Stimme.

Der Zwerg hob seinen Kopf etwas hoch und versuchte in die Richtung zu schauen, aus der die Stimme gekommen war. Gegen die dunkel orange leuchtenden Abendwolken zeichnete sich die Gestalt eines Zwerges ab. Das lange, offene Haar wehte im Wind. In der Hand hielt er einen Stab, der fast doppelt so lang war wie sein Halter groß. An der Spitze hatte er eine kugelförmige Verdickung.

»Ya'Vita? Bist du das wirklich?«, fragte Sa'Ari und versuchte aufzustehen. Der Schmerz in seiner Schulter ließ ihn jedoch wieder zusammenzucken.

Sofort sprang der andere Zwerg an seine Seite und stützte ihn, sodass er sich aufsetzen konnte. Der lange Stab, den er dabei aus der Hand fallen ließ, landete dabei so unglücklich auf einem großen Stein, dass er durch die Luft gewirbelt wurde und Sa'Ari mit der Verdickung in den Rücken traf, genau an die Stelle, wo er von dem Bären verletzt worden war.

»Ahh!«, stöhnte der Zwerg kurz auf, »Ist Ya'Vita hier, um Sa'Ari zu retten oder weiter zu foltern?«

»Nein, oh ... Ya'Vita wollte doch nur ...«, stammelte der andere Zwerg und legte seine Hand behutsam auf Sa'Aris Schulter.

»Hey! Das war nur ein Witz! Sa'Ari ist überglücklich, Ya'Vita zu sehen. Ya'Vita hat Sa'Ari das Leben gerettet. Wie kann Sa'Ari nur seine Dankbarkeit zeigen?«

Inzwischen war die Sonne vollständig untergegangen. Der fast volle Mond, der gerade über die Wipfel der Bäume kletterte, versetzte alles in ein silbriges Licht.

Ya'Vita blickte auf den verletzten Freund herab. Ihr rundes, aber schönes Gesicht glänzte ganz leicht im Mondschein. Sie war nicht dick, aber dennoch von recht kräftiger Gestalt.

Sie und Sa'Ari kannten sich schon von klein auf. Er war nur wenig jünger als sie. Ya'Vitas Vater, der ebenfalls als Schmied gearbeitet hatte, verband eine enge Freundschaft mit Sa'Guor und dessen Familie.

Als Kinder spielten sie oft zusammen. Erst, als beide älter geworden waren, hatten sich ihre Wege etwas getrennt. Nur hin und wieder trafen sie noch aufeinander und spätestens seit der Zeit, wo Sa'Ari von Con'Or verbannt worden war, war der Kontakt ganz abgerissen.

Nach der Heimkehr mit seinem Vater hatte Sa'Ari die heimische Werkstatt nur sehr selten verlassen. Ya'Vita hatte zwar versucht, in seine Nähe zu kommen, doch fast ständig war Sa'Guors Haus von seinen Anhängern und von Neugierigen umlagert gewesen.

»Wieso ist Ya'Vita eigentlich Sa'Ari gefolgt?«, fragte er plötzlich.

»Später! Später! Erst müssen Sa'Aris Wunden versorgt und ein sicherer Ort für das Nachtlager gefunden sein«, erwiderte die Zwergin, ohne auf seine Frage zu antworten.

Nachdem sie eine gut geschützte Nische unter einem Felsen gefunden und mit Moos ein Lager für Sa'Ari bereitet hatte, half sie ihm auf und brachte ihn dort hin.

Glücklicherweise war seine Verletzung doch nicht so schlimm wie befürchtet. Ya'Vita trug eine ihrer selbst hergestellten Salben auf, und schon kurze Zeit später war der Schmerz wie weggeblasen und Sa'Ari eingeschlafen.

Die Zwergin setzte sich unterdessen neben sein Lager und strich ihm ganz behutsam über die Haare. Den langen Stab zwischen den Beinen haltend wollte sie die ganze Nacht Wache halten, da Sa'Ari bis zum Morgen durchschlafen musste, um wieder zu Kräften zu kommen. Doch es dauerte nicht lange, bis auch sie langsam und tief atmend eingeschlafen war.

Sa'Ari erwachte bereits, als die ersten Sonnenstrahlen die entfernten Berge mit einem roten Schein entflammten. Dank der besonders wirksamen Salbe der Zwergin schmerzte die Wunde kaum noch.

Lächelnd betrachtete er Ya'Vita, die in sich zusammengesunken neben seinem Lager saß. Das rötlich-gelbe Licht ließ ihr dunkelblondes, welliges Haar wie einen goldenen Schleier schimmern.

Erst nach Minuten bemerkte Sa'Ari, wie er sie anstarrte. Mit einem Ruck riss er seinen Blick los. Für einen Moment dachte er daran, heimlich aufzubrechen und Ya'Vita allein zurückzulassen. Das, was vor ihm lag, wollte er ihr nicht zumuten. Andererseits würde er wahrscheinlich ohne ihre beinahe heldenhafte Hilfe bereits ein leckeres Mal des Braunbären sein.

Etwas Unterstützung und einen Gefährten an seiner Seite würde ganz sicher nicht nur hilfreich, sondern auch angenehm sein. Nur musste er zuvor sicher sein, dass sie nicht womöglich von seinem Vater geschickt worden war.

Vorsichtig weckte er seine Retterin. Als diese die aufgehende Sonne bemerkte und erkannte, dass sie während ihrer Wache eingeschlafen war, sprang sie so plötzlich und unerwartet auf, dass Sa'Ari vor Schreck ein paar Schritte zurück machte und sich mit dem Kopf an einem vorstehenden Teil des Felsens stieß, der die Nische überragte, wo sie die Nacht verbracht hatten.

»Oh nein! Nein! Ya'Vita ist eingeschlafen! Ya'Vita hat nicht Wache gehalten. Oh, wenn der Bär zurückgekommen wäre! Oder ein anderes böses Tier! Ya'Vita hat versagt ...«, begann sie sich selbst auszuschimpfen.

»Hey, hey! Ya'Vita. Es ist alles gut. Es ist nichts geschehen. Sa'Ari geht es ausgezeichnet, dank Ya'Vitas Hilfe!«, versuchte der Zwerg sie zu beruhigen, doch so leicht war die Zwergin nicht umzustimmen.

»Ja, aber es hätte etwas passieren ...«, wollte sie fortsetzen, doch Sa'Ari ging gleich dazwischen.

»Lass gut sein! Sa'Ari braucht jetzt dringend erst noch ein paar Antworten von Ya'Vita! Also, wieso ist Ya'Vita Sa'Ari gefolgt?«

Das Gesicht der Zwergin färbte sich mit einem Mal tiefrot. Mit gesenktem Blick begann sie zu erzählen. Zuerst kamen die Worte nur ganz stockend. Doch schon bald sprudelte es nur so aus ihr hervor.

Ya'Vita erzählte, wie traurig sie gewesen war, als der Druide Con'Or Sa'Ari verbannte und er mit den beiden Zauberern die Zwergenkolonie verlassen hatte. Am liebsten wäre sie ihm gefolgt, doch er war schon kurz nach dem Ausgang ihrer Höhle spurlos verschwunden.

Umso größer war ihre Freude, als er wieder zurückkehrte. Doch schon bald bemerkte auch sie, dass nichts mehr war wie früher. Ihr Vater, der ein gutes Stück älter gewesen war als Sa'Guor und gestorben war, bevor die Zwei zurückgekehrt waren, hatte sie immer vor Zwergen gewarnt, die gierig nach der Macht strebten.

Als dann Sa'Guor, den sie wie einen Onkel liebte, genau dieses Verhalten zeigte, war sie darüber zutiefst bekümmert und enttäuscht.

Dann hatte sie beobachtet, wie Sa'Ari sich seinem Vater entgegenstellte und daraufhin überhaupt nicht mehr auftauchte. Keiner ihrer Freunde wollte ihr glauben.

Als der neue Druide nach der Druidenweihe die Flucht seines Sohnes feststellte, schickte er ohne zu zögern Wächterzwerge hinter ihm her.

Diesmal zögerte Ya'Vita keinen Moment und folgte ihnen. Doch sie wollte sich nicht an der Jagd auf Sa'Ari beteiligen. Sie wollte ihn zuerst einholen und vor seinen Verfolgern warnen.

Mithilfe gezähmter Ratten hatten die Wächterzwerge die Verfolgung von Sa'Ari aufgenommen. Egal, was er auch versuchte, um seine Spuren zu verwischen, die Ratten folgten ihm zielsicher wie einem Korb mit Fressen. Ein Entkommen würde ihm kaum möglich sein.

Jede Nacht, wenn die Wächterzwerge eine kurze Nachtruhe einlegten, zog Ya'Vita um ihr Lager herum und fing an, die richtigen Spuren zu verwischen und gefälschte Spuren zu legen, sodass die Ratten von Tag zu Tag mehr in die Irre geführt wurden. Schon nach kurzer Zeit hatten die Wächterzwerge dadurch die echte Spur von Sa'Ari verloren.

Ya'Vita hingegen folgte weiterhin Sa'Ari. Als sie ihn endlich eingeholt hatte, war sie sich unsicher, ob er ihr glauben und nicht vielleicht sogar böse darüber sein würde, weil sie ihn verfolgte. Deshalb verbarg sie sich erst einmal weiter in Dickicht des Waldes, bis sie den Bären entdeckte, der dann über den Zwerg herfiel.

Ohne lange nachzudenken, sprang sie aus dem Unterholz und schlug auf das Tier ein, bis es schließlich die Flucht ergriff. Ihre Erfahrung als Jägerin, was bei den Zwergen üblicherweise eine Tätigkeit der weiblichen Mitglieder der Kolonie war, da sich die Männlichen fast ausschließlich mit Bergbau und Metallurgie beschäftigten, kam ihr dabei sehr zugute.

»Sa'Ari ist Ya'Vita sehr dankbar für ihre Hilfe. Von ganzem Herzen! Wirklich. Der Weg aber, den Sa'Ari noch vor sich hat, ist sehr schwer und sehr gefährlich. Sa'Ari kann von Ya'Vita nicht erwarten, sich diesen Gefahren und Entbehrungen ebenfalls auszusetzen«, sagte der Zwerg mit trauriger Stimme, nachdem die Zwergin ihre Erzählung zu Ende gebracht hatte.

Ya'Vita schaute ihn mit großen Augen an. Darin sammelten sich mehrere Tränen. Obwohl sie es versuchte zu verhindern, fing sie doch an zu schluchzen.

»Sa'Ari möchte nicht, dass Ya'Vita ihn begleitet?«

»Nein, nein. So hat Sa'Ari das nicht gemeint!«, erwiderte er sofort, doch sie schien gar nicht mehr zuzuhören.

»Ya'Vita macht immer alles falsch. Es ist wahrscheinlich sowieso besser, wenn Sa'Ari ohne Ya'Vita weitergeht. Ya'Vita ist ...«

»Ya'Vita!«, unterbrach sie der Zwerg, »Es wäre schon schön, wenn mich jemand begleiten würde ...«

»Dann mag Sa'Ari nur nicht, dass Ya'Vita mitkommt?«

»Doch! Sa'Ari befürchtet nur, dass es sehr gefährlich werden kann. Und anstrengend.«

»Ya'Vita fürchtet keine Gefahr. Und kräftig ist Ya'Vita auch«, antwortete sie und schaute den Zwerg bittend an.

Dieser schaute zurück, ohne dass dabei auch nur eine winzige Regung in seinen Gesichtszügen zu erkennen war. Die Zwergin wurde immer nervöser und wollte gerade ihren Blick senken, als Sa'Ari plötzlich begann, über das ganze Gesicht zu lachen.

»Gut. Sa'Ari möchte seine Reise gern mit Ya'Vita fortsetzen!«, sagte er und streckte seine rechte Hand mit gespreizten Fingern nach oben.

Auch die Zwergin strahlte nun wie eine Braut vor dem Traualtar, trat ganz dicht an Sa'Ari heran und legte ihre linke Hand, ebenfalls mit gespreizten Fingern, auf die Seine. Diese Geste gilt unter Zwergen als Zeichen eines besonders innigen Bündnisses.

Dann fasste Sa'Ari ihre Hand und gemeinsam begannen die Zwei den Aufstieg auf den Berg. Noch gab es ausreichend Büsche und hohes Gras, weshalb sie gut vorankamen und trotzdem vor möglichen Blicken verborgen blieben.

Während ihres Aufstiegs erklärte ihr der Zwerg das eigentliche Ziel ihrer Reise. Ya'Vita nickte nur, um ihre Zustimmung zu zeigen. Sie war einfach überglücklich, dass sie Sa'Ari begleiten durfte.

Das Wetter wurde unterdessen von Minute zu Minute schlechter. Die Sonne, welche sie am Morgen noch geweckt hatte, war nun hinter dicken Wolken versteckt, die zusehends tiefer sanken und bereits die Gipfel der Berge verschluckt hatten. Dazu begann es auch noch, leicht zu nieseln, wodurch der Boden glatt und rutschig wurde.

Als sie höher kamen, tauchten auch sie in den Nebel der Wolken ein. Auf diese Weise gut getarnt, setzten sie ihre Reise trotz des schlechten Wetters über eine steile Geröllhalde fort, die Sa'Ari ansonsten erst bei Anbruch der Dunkelheit passiert hätte.

Die durch den Regen glitschigen Steine boten den zwei Zwergen beim Klettern nur wenig Halt. Immer wieder passierte es, dass sich ein Stein löste und dumpf polternd nach unten rollte. Auch mussten die Zwei höllisch aufpassen, um nicht den Halt zu verlieren und selbst abzurutschen.

Stück für Stück kämpften sie sich weiter nach oben. Das Geröllfeld hatte sich nun zu einem schmalen Pass verjüngt. Auf der rechten Seite türmten sich meterhohe Felsbrocken auf, während auf der linken Seite eine tiefe Schlucht gähnte.

Ya'Vita, unter deren Fuß gerade wieder ein Stein wegrutschte, geriet leicht ins Straucheln und stieß dabei mit ihrem Kopf gegen Sa'Aris Schulter. Dadurch ebenfalls aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte er über die Wurzel einer verkrüppelten Bergkiefer. Dabei verlor er für einen Moment die Kontrolle über sich und rollte in Richtung der Schlucht.

Noch bevor er sich wieder gefangen hatte, war der Abgrund erreicht und er stürzte in die Tiefe. Die Zwergin, die ihren Fehler und dessen verheerende Folgen sofort erkannte, versuchte noch, durch einen kühnen Sprung Sa'Ari zu Hilfe zu kommen und seinen Absturz zu verhindern, konnte ihn aber nicht mehr rechtzeitig erreichen. Ihr selbst gelang es allerdings auch nicht, sich an den glitschigen Steinen festzuhalten. So rutschte auch sie über den Rand der Schlucht.

ENDE DER LESEPROBE

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